«Was fällt euch ein, am Aschermittwoch noch zu ‹bööge›?» Entrüstet kanzelte die alte Frau Guyer uns reformierte Kinder ab. Frau Guyer war eine gläubige Katholikin und wusste, was sich gehört. Belämmert zogen wir von dannen. Wir hatten keine Ahnung, was sie uns sagen wollte.
Ich bin im Zürcher Oberland aufgewachsen. Fasnacht spielte keine grosse Rolle. Nicht wie in Luzern oder in Basel. Dennoch verkleideten wir Kinder uns und bettelten von Tür zu Tür um Süssigkeiten.
In unserem Dorf waren beinahe alle Leute reformiert, mit wenigen Ausnahmen wie eben Frau Guyer. Wir hatten keine religiöse Bildung erhalten. Religionsunterricht gab es bei uns in der Schule nicht.
Aschermittwoch – Beginn der Fastenzeit. Und vorher? Fasnacht hatte zum Ziel, vor den Entbehrungen der Fastenzeit nochmals über die Schnur zu hauen, sich in Jubel, Trubel, Heiterkeit zu stürzen. Man sollte sich in den folgenden 40 Tagen vor Ostern der inneren Einkehr widmen, die Leidenszeit Christi bedenken und sich beim Essen und Trinken zurückhalten.
Es dauerte Jahre bis ich Frau Guyer verstand. Ich brauchte das Theologiestudium, das kirchliche Leben und wohl auch eine innere Reife.
Am vergangenen 17. Februar begann heuer die Passions- oder Fastenzeit. In dieser Zeit soll der Körper geläutert, soll eben gefastet werden. Manche Menschen auferlegen sich ausgewählte Entbehrungen. Sie verzichten auf Alkohol oder Süssigkeiten, essen kein Fleisch, trinken keinen Kaffee. Einige schliessen sich einer Fastengruppe an und tauschen sich regelmässig über ihre Erfahrungen aus. Wichtig scheint mir, dass dies aus innerer Überzeugung geschieht. Dann sehe ich darin einen Sinn. Bei mir setzte sich nichts Besonderes durch. Und bei Ihnen? Stecken Sie mitten drin? Machen Sie neue Erfahrungen? Halten Sie durch bis Ostern?
Mich begleitet die Brot für alle-Agenda durch die Fastenzeit. Sie wurde der letzten Ausgabe des «reformiert.» beigelegt und bringt mir wertvolle Anregungen. Klimagerechtigkeit lautet das Motto der Fastenzeitkampagne unserer Hilfswerke Brot für alle/Fastenopfer/Partner sein, verantwortet von unseren drei Landeskirchen.
Die Coronakrise überschattet die diesjährige Kampagne. Die Sorgen ums Klima treten in den Hintergrund. Keine gute Entwicklung. Aber verständlich. Dennoch: Der Kampf gegen das Coronavirus schliesst den Einsatz um mehr Klimagerechtigkeit nicht aus. Das Eine tun, das Andere nicht lassen.
Vielleicht erleben wir bis Ostern Lichtblicke, Licht im Dunkeln gegen diese Seuche, Licht im Dunkeln für mehr Klimagerechtigkeit. Auch wenn unsere Möglichkeiten begrenzt sind, halten wir uns an die Regeln, die Covid 19 eindämmen können. Vermeiden wir CO2-Ausstoss soweit möglich – ein bescheidener Beitrag, ich weiss. Der Versuch lohnt sich dennoch. Sie kennen den Ausspruch aus einem früheren Fastenkalender: Auch Kleinvieh gibt Mist.
Jeder Aschermittwoch erinnert mich an die alte Frau Guyer. Ich konnte ihren Rüffel nicht vergessen. Es ist ihr gelungen, mich nachdenklich zu stimmen, wenn auch erst viel später. Nachhaltigkeit gelingt oft nicht unmittelbar. Der Aschermittwoch erhielt nun die Bedeutung, die er auch für uns Reformierte hat.
Pfarrer Jacques Dal Molin