Vergessenwerden als Chance

«Ich will mich erinnern, wie bald ich vergessen sein werde.» Einen befreienden Satz schreibt für mich da Friedrich Hölderlin: Wie viele unserer Gespräche und Aktivitäten werden durch die leise Hoffnung am Leben erhalten, dass wir für jemanden etwas bedeuten, dass wir uns einen Namen erschaffen, den man gerne ausspricht oder dass wir etwas zum Guten verändern, das wichtig ist. Und hoffentlich werden wir auch eine Spur hinterlassen.

Der Satz von Hölderlin lädt ein, eine andere Perspektive einzunehmen. Wie die Stoiker können wir auf einen höheren Berg steigen und das Leben einmal aus dieser Sicht betrachten. Von diesem Punkt ins Tal schauend, sehen wir verschiedenes: Dort schwappen Wellen über, da werden neue Strassen gebaut, hier werden Auseinandersetzungen geführt und woanders wird ein Staudamm angelegt. Wenn wir uns überlegen, warum wir dies oder jenes tun, finden wir viele Gründe.

Wie schnell vergessen wir, dass wir bei all diesem Tun auch an etwas arbeiten, das meist abgerissen wird, sobald wir nicht mehr da sind. Stellen Sie sich vor, wie ihre Bücher, Fotos und Videos nach Ihrem Tod in eine Kiste bei ihren Kindern oder Verwandten verschwinden und etwas später in den Müll geworfen werden, weil niemand an ihnen Interesse hat. Auch meine Angehörigen werden mit der Zeit nicht mehr an mich denken. Den Beruf, den ich ausübe, wird eine andere Person übernehmen und man wird mich schnell vergessen. Wie nichtig erscheint aus dieser Perspektive manches, was mein Leben füllt. Oder wie es der Prediger in der Bibel sagt: «Es ist, als jagtest du dem Wind nach.» (1,15).

Mir bewusst zu werden und zunehmend anzunehmen, dass ich bald vergessen sein werde, erlaubt es mir, mich mehr auf das auszurichten, was für mich heute wichtig ist, was jetzt für mich Sinn macht. Gott hat uns meines Erachtens so erschaffen, dass wir uns diesen Sinn selbst geben können. Und damit wir das besser erkennen, kann eine Wanderung auf einen hohen Berg hilfreich sein. Von dort sehen wir schärfer, auf welchen Wegen wir unser Lebensfahrzeug steuern wollen und sind weniger von den aktuellen Tagesanforderungen bestimmt.

Vielleicht haben Sie Lust, einmal so eine Wanderung ganz wörtlich zu unternehmen und sich zu fragen, was in ihrem Leben wirklich wichtig sein soll, weil Sie das so wollen, weil es Ihnen wichtig ist, weil es Sie erfüllt, weil es Ihnen Spass macht, weil es Sie glücklich macht. Diese Wanderung könnte auch bedeuten, dass Sie weniger tun, Sachen loslassen. Warum? Weil das, was Ihnen zurzeit viel abverlangt und wenig Befriedigung bringt, auch von Ihnen und anderen schnell vergessen sein wird. Und womöglich steigen Ihnen bei dieser Wanderung auf einen Berggipfel dann Ideen auf, die Ihnen gut tun …

Eine der Einsichten, die mir bei solch einer Wanderung wichtig wurde, hat derselbe Prediger, den ich zuvor zitiert habe, so formuliert: «Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass wir Menschen in dem kurzen Leben, das Gott uns zugemessen hat, nichts Besseres tun können, als essen und trinken und es uns wohl sein lassen bei aller Mühe, die wir haben. So hat Gott es für uns bestimmt.» (Koh 5,17-18)

Ich würde mich freuen, wenn Sie mir schreiben, welche Einsichten Ihnen wichtig sind, wenn Sie von einem Berg aus auf Ihr Leben blicken. Solches zu teilen interessiert mich sehr.

Peter Geissbühler