Die Geschichte geht mir nicht mehr aus dem Sinn, so fest geht sie mir zu Herzen. Neu ist sie für mich nicht. Und doch hörte ich sie dieses eine Mal anders, nämlich so: Sie möchte in ihrer Art meine eigene werden.
Von einem lehrenden Rabbi erzählt die Geschichte, und so besonders wäre sie gar nicht, wenn mit ihm nicht eines Tages wirklich etwas geschehen wäre. Er begann, wie er es zu tun pflegte, in der Versammlung zu lesen, was in der Schriftrolle geschrieben stand, setzte also an und sagte laut und klar: «Und Gott sprach…» – da, seine Stimme, sie riss ab, weiter kam er nicht. Erregt begann er zu atmen, lachte auf, geriet ganz ausser sich und rief ununterbrochen: «Habt ihr gehört? Gott sprach! Stellt euch das einmal vor! Unglaublich! Wunder über Wunder!» Man musste ihn aus der Versammlung führen. Er konnte es nicht fassen, war schlicht überwältigt. Ihm ist zum ersten Mal in seinem Leben aufgegangen, was das heisst: «Gott sprach». Mit zwei Worten alles gesagt! Ein aufschlussreicher Schlüsselsatz für tausend und eine Lebenserfahrung.
An Weihnachten wird man einen bestimmten Satz wieder hören. Neu ist er nicht. Man wird ihn in Versammlungen vernehmen, wo gefeiert wird. «Und das Wort wurde Fleisch.» Ein richtiger Satz mit Subjekt und Prädikat. Ob er das Zeugs dazu hätte, zu einem aufschlussreichen Schlüsselsatz zu werden, so dass man Leute aus der Kirche tragen müsste, weil sie völlig ausser sich nur noch lachen und rufen könnten: «Das Wort wurde Fleisch! Habt ihr gehört! Das ist doch verrückt! Stellt euch das mal vor! Unglaublich! Wunder über Wunder!» Vielleicht wäre es die predigende Pfarrperson – warum denn nicht? – oder auch einfach welche von denen, die es drinnen soeben neu gesagt bekommen und dieses eine Mal noch ganz anders gehört haben: Das Wort von Gott wird Fleisch, Materie (so übersetzt die «Bibel in gerechter Sprache» griffiger), wird eins mit unserer Alltagswirklichkeit, wirkt erlösend und schöpferisch, verbindet sich mit dem, was uns umtreibt und belebt, verbindet sich mit unseren schweren Gedanken und schwierigen Gefühlen, mit unseren Herausforderungen und Überforderungen, mit unseren Konflikten – mit uns selbst, mit andern, wir sind in sie heillos verstrickt – verbindet sich mit unseren physischen, psychischen, sozialen («Zu wem gehöre ich?») und spirituellen Schmerzen («Macht mein Leben Sinn?»)… und verwandelt sie, verwandelt uns, ja… und ist auch in unserer Freude und in unserem Dank präsent.
Wir brauchen dafür nicht an einen bestimmten Ort gehen zu wollen. Wir können einfach wahrnehmen, was ist, wo wir sind. Und können vielleicht zum ersten Mal erst richtig hinsehen und hinhören, selbst wenn es uns hilflos oder gar ohnmächtig macht, was wir zu sehen und hören bekommen, weil das Wort von Gott sich mit allen und mit allem verbunden hat. Und wir können Welten tragen und gestalten, wir wissen nicht wie. Wer kann das fassen?
Urs Zangger, Pfarrer
Bildlegende: «Worte wie Schlüssel: Sie eröffnen uns Zugang zu Erfahrungen.» (Foto: Bruno/pixabay.com)
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