Das Evangelium im Hotelraum 102

Foto: Mike Dubose/WCC

Der Seminarraum, der sich in einem Hotel mitten in Karlsruhe befindet, scheint, als wäre er in den 80ern stehen geblieben. Der Teppich, die Stühle und das Muster der zugezogenen Vorhängen weisen darauf hin. Jedoch geht es hier weniger um die Raumeinrichtung, sondern um einen Workshop zum Thema HIV-Stigmatisierung und wie lokale Kirchgemeinden sich für die Integration von Aids-Betroffenen engagieren.

Dieses Treffen findet im Rahmen der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen statt. Nur alle sieben bis acht Jahre treffen sich verschiedene christliche Denominationen aus der ganzen Welt, um über aktuelle Themen zu debattieren, miteinander Bibeltexte zu lesen, Gottesdienst zu feiern und sich trotz kultureller und theologischer Unterschiede versuchen gegenseitig zu zuhören und zu verstehen. Und ich kann dieses Mal daran teilnehmen.

Nun sitze ich in einem Raum mit fünfzehn anderen Menschen, denen ich noch nie in meinem Leben begegnet bin. Mich verunsichert auf einmal meine zuvor getroffene Wahl, genau diesen Workshop zu besuchen. Habe ich hier als Schweizerin wirklich etwas verloren? In Zürich wurde das Aids-Pfarramt vor nicht allzu langer Zeit aufgehoben, weil sich die Situation in der Schweiz so gut entwickelt hat. Doch gerade, weil das Thema mit meinem Arbeitsalltag so wenig zu tun hat, wollte ich hierherkommen. Ich wollte hören, wie sich die Botschaft Jesu «Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst» in diesen mir fremden, aber konkreten Situationen äussert.

Während ich den Kirchgemeindevertreter und Vertreterinnen aus Argentinien, USA, Uganda, Südafrika und Ghana zuhöre, spüre ich, wie sehr mich ihr Engagement berührt. Sie bieten Kurse an, um die Bevölkerung über die Krankheit aufzuklären, fahren mit Erkrankten zu ihren Therapien und nehmen sie in ihren Gemeinden auf. «Auch wenn es nun überall HIV-Medikamente gibt, ist eine Pille gegen Stigmatisierung noch nicht vorhanden», sagt eine Frau aus Uganda. Doch was genauso wichtig wie Aufklärung ist: dass der Priester oder die Pfarrerin in den Kirchgemeinden Menschen mit HIV, sichtbar für alle, umarmen. Viele glauben fälschlicherweise, dass sie sich selbst mit HIV anstecken könnten, wenn sie sich nähern. Oder stossen die Betroffenen aus ihrer Gemeinschaft, weil sie sie verurteilen, sich nicht sexualmoralisch an die richtige Norm gehalten zu haben. Eine Umarmung hält gegen solche Vorurteile an. Ich werde Zeugin dieser Christ:innen, wie sie Liebe und Hoffnung in ihren Handlungen sichtbar machen; aber auch von Tränen, die fliessen, weil Menschen immer noch an Aids sterben, weil sie sich aus Angst vor dem Verstossen werden, nicht frühzeitig testen lassen. Am Schluss geben sich alle die Hand und ein Lied wird gesungen. Wir kennen uns nicht. Aber es verbindet uns noch etwas Stärkeres. Ich würde dem Gott sagen. Andere würden vielleicht Liebe sagen. Beides hört sich für mich richtig an. Wir singen ein Lied, in welchem wir Gott darum bitten, uns zu vereinen.

Bevor alle wieder zurück zum Hauptprogramm gehen, umarmt man sich, als würde man sich schon ewig kennen. Die gute Nachricht von Jesus ist für mich sicht- und spürbar geworden. In diesem dunklen Hotelraum mit 80er-Jahre-Teppich.

Christina von Allmen-Mäder, Sozialdiakonin

Weitere Berichte und Videos über die Ökumenische Vollversammlung, welche vom 31. August bis 8. September stattfand, finden Sie auf: www.refbejuso.ch/vollversammlung oder www.oikoumene.org