Nidau, ein malerisches Städtchen in der Nähe des Bielersees, hat seine ganz eigene Sehenswürdigkeit: einen schiefen Kirchturm. Ein Turm, der seit Jahrhunderten langsam seine Haltung verloren hat. Schuld daran ist der Untergrund – zu feucht, zu weich, zu nah am See. Und so steht er heute dort, geneigt wie ein Baum im Wind, und trotzt den Stürmen des Lebens. Doch dieser schiefe Turm ist für mich mehr als nur ein architektonischer Zufall…
Der Turm ist für die Kirche das, was die Krone für den Baum ist – das Erhabene, das Überragende. Doch wenn der Turm schief ist, was dann? Vielleicht, dass auch ich mich beuge unter der Last der Zeit. Im ersten Testament steht: „Das geknickte Schilfrohr wird Gott nicht zerbrechen.“ Und so wie der Gott Jesajas das gebeugte Rohr schont, so schont auch die Gemeinde von Nidau ihren schiefen Turm. Niemand hat bis jetzt einen Antrag gestellt, ihn aufzurichten. Vielleicht auch weil in seiner Schieflage seine Besonderheit liegt.
Ich sehe den Turm in Schräglage auch als Bild für das Leben: Wer hat nicht schon mal das Gefühl gehabt, im Sturm des Alltags aus der Balance zu geraten? Der Turm legt mir nahe, dass eine Neigung, ein Fehler, eine Schieflage auch etwas Wertvolles sein kann.
In Nidau gibt es auch einen neuen Kreisverkehr beim Bahnhof. Ein modernes Bauwerk, das ganz anders als der Turm für Effizienz und geordnete Strukturen stehen soll. Doch ironischerweise sorgt dieser Kreisel oft für lange Autokolonnen – auch Schieflagen zur geplanten Ordnung.
Wer könnte den Turm besser verstehen als Menschen im reiferen Alter, die mit gebeugtem Rücken durch die Strassen gehen? Das Alter bringt seine eigene Schieflage mit sich, körperlich wie geistig. Sie zeugt von einem langen Leben, von vielen durchlebten Stürmen.
Ich erkenne im schiefen Turm nicht nur, wie der Mensch zerbricht, sondern auch, wie er würdevoll bleibt, nicht weil er etwas erreicht oder sich anstrengt, sondern weil er selbst im Zerbrochenen fortbesteht. Wie der Turm schwanke ich zwischen der Erde und dem Göttlichen – nie ganz aufrecht, manchmal zerbrochen, und doch von einer unsichtbaren Kraft «angenommen». Ich stelle mir vor, wie ich auf einem unebenen Felsen stehe, rau und schroff, voller Risse und Kanten. So wie der Fels mich trägt, so werde ich von Gott angenommen, genau wie ich bin – mit allen Brüchen und Ecken. Dies im Unterschied zu dem, wie ich sein sollte oder gerne wäre. Das entspannt mich. Vielleicht entdecke ich die Tiefe des Lebens, wenn ich mich auf diese Schieflage, diese Risse und Brüche einlasse.
Darum schätze ich auch die Kreuze als Symbol in unseren Kirchen. Es sind weitere «schiefe Türme». Doch diese Kreuze sind leer. Da ist kein gepeinigter Jesus mehr darauf. Neues Leben hat die Kreuze geleert. So wächst in mir die Hoffnung, dass aus dem Gebrochenen neues Leben blüht – im Licht von Ostern.
Ich lade Sie ein, einen Moment am schiefen Turm von Nidau zu verweilen und ihn auf sich wirken zu lassen. Erkennen Sie in seiner Neigung ein Stück Ihres eigenen Weges? Eine Schräglage, die getragen ist von der Erde und offen zum Himmel…
Peter Geissbühler, Pfarrer
Bildlegende: Der (aufgrund des Untergrunds) schiefe Kirchenturm von Nidau: Foto: Edith Loosli
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