Nach eineinhalb Jahren Vorbereitungszeit war ich so weit. «Guten Tag, hätten Sie zwölf leere Bananenkisten für mich?» Und jetzt die Bücher, die ich kaum mehr brauche, in die Kartonschachteln reihen. Ich ringe mich zur anspruchsvolleren Variante durch: Nicht ganze Regalbretter en bloc entsorgen, sondern ein Buch nach dem anderen in die Hand nehmen, entscheiden und loslassen.
Erinnerungen kommen hoch. Bilder, Stimmen, Begegnungen, Angenehmes und Peinliches. Zuweilen lasse ich den Fluss der Gedanken zu, manchmal klemme ich ab. Eine Schachtel nach der anderen füllt sich. «Ich bin’s wieder. Könnten Sie mir nochmals zwölf Kisten auf die Seite legen?» Wiederum nehme ich zahlreiche Bände in die Hand, wäge ab und staple sie ordentlich in den Behälter. Vierundzwanzig Kisten sollten ja reichen. Meine Hände werden mit der Zeit schmutzig.
Bücher, das sind bei mir vor allem Sachbücher. Erwünschtes Wissen. Ich liebe dichte und intensive Lektüre – es kribbelt, wenn Langeweile flieht. So vieles interessiert und begeistert mich; neue Horizonte, andere Sichtweisen, frische Gedanken. Bücher geben mir auch eine gewisse Sicherheit, vielleicht Heimat. Durch Wissen werden Abläufe und Personen durchsichtiger, also vorhersehbarer. Diese Vorausschau durch Erkenntnisse wiederum bewirkt, dass ich in Situationen oder Beziehungen mehr Übersicht habe und sie so etwas strukturieren kann. Wie beim mentalen Weitblick auf einer alpinen Karte. All das senkt meinen Stress-Pegel. Stress ist gelegentlich ein Symptom für eine Angst, die ich nicht wirklich fühle. Eine diffuse Angst. Ich erkenne sie am Gefühl der Unsicherheit, an meinem Zögern oder an den kalten Händen.
Ich höre, wie die Angestellte am Telefon schmunzelt, als ich mich zum dritten Mal melde, um leere Bananenschachteln zu bestellen. Es hat mich gepackt. Frische Luft weht in mein Büro. Ein Hauch von Leichtigkeit. Auf dem Familienchat poste ich ein Foto von mir mit den sich auftürmenden 31 Kisten Büchern. Sie werden jetzt entsorgt. Ich hab’s geschafft! Dieser Sportlersatz entlockt mir ein selbstkritisches Grinsen, aber dann lächle ich mir zu.
Jesus: «Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.» Jesus, könntest du das in Frageform, mit therapeutischem Geschick und gutem Timing ausdrücken? Er geht auf mich ein: «Was könntest du tun, um dein Sorgen ein klein wenig zu senken?» Ich erwidere «ent-sorgen», im Wortsinn des 17. Jahrhunderts: sich von Sorgen befreien.
Bei der Verwertungsfirma bezahle ich 51 Franken dafür, dass ich mir diese Bücher vom Hals schaffe. Später realisiere ich mit einem Ausrufewort des Unbehagens, dass unsere Gemeinde diese Kartons gratis entsorgt hätte. Trotzdem war es mir diesen Preis Wert.
Die Hälfte meiner Bücher entsorgen hat manches in mir aufgewühlt. Es war ein anspruchsvoller Weg, mit vielen unangenehmen Momenten, gewiss auch mit Trauer. Und doch sprechen die Lücken in den Büchergestellen Bände: Etwas in mir lässt sich gelegentlich mehr auf das ein, was ich nicht vorhersehen und auch nicht mental im Voraus gestalten kann. Das wirkt befreiend, erleichternd und gibt neue Energie.
Haben Sie Lust, in Ihrem Leben etwas zu ent-sorgen? Ich ermuntere Sie dazu. Vielleicht erzählen Sie mir bei einem Kaffee, wie es Ihnen dabei ergangen ist …
Pfarrer Peter Geissbühler
Die Ausgabe Mai 2023 unserer Gemeindeseiten reformiert. lesen