Predigt im Fluss – als Kurzgeschichte

Da der Gottesdienst vom Sonntag 7. Februar im Kulturzentrum La Prairie in Bellmund abgesagt wurde, stellen wir Ihnen hier den Predigttext von Pfarrer Fabio Carrisi zur Verfügung.

Am einem der weltbekanntesten Flüsse der Welt sitzt ganz unaufgeregt und gänzlich von der Öffentlichkeit unbemerkt eine Froschfamilie abseits im Schilf bei der täglichen Alltagsbeschäftigung: Hüpfen. Papa Frosch zeigt seinen Sprösslingen ganz erhaben und stolz, wie nach guter Froschart ins Wasser gesprungen wird. Der erste der Sprösslinge hüpft ohne Aufforderung und bedenkenlos ins grüne Nass. Der zweite bevorzugt eine anderweitige Springvariante und lässt sich zunächst leicht in die Höhe schnellen um dann ganz elegant ins Wasser zu gleiten. Mama Frosch schaut, etwas erhöht und aufmerksam auf einem Stein sitzend, dem familiären Treiben zu, bis der gesamte Nachwuchs nach allen erdenklichen Sprungarten wieder heil – Gott sei Dank – aus dem Wasser watscht. Vater Frosch nickt lediglich wenn er die Versuche seines Nachwuchses halbwegs als gut befand. Ansonsten starrte er, wie abwesend, ins Nichts. Das ging eine ganze Weile so, denn das korrekte Springen soll erlernt sein, damit es aus den Hüpfsprösslingen gute Frösche werden. 

Nicht weit entfernt vom besagten Froschteich, der durch die jährlichen Überflutungen des Mississippi entsteht und ebenso schnell durch die sengende Hitze im Sommer wieder austrocknet, lebt Erwin in einem von der Zivilisation abgekapselten Dorf – zu seinem eigenen Bedauern. Wie es dazu kam? Erwin peilt alles andere als eine solide Schulkarriere an. Es stimmt, er prügelte sich oft mit den Jungs der Grundschule von nebenan, weil er sich schliesslich nicht kleinkriegen will. Weshalb soll er die andere Strassenseite wechseln, nur weil ein paar Halbstarke nebenan das rechte Trottoire als ihr Territorium betrachten? Schliesslich ist er ein freier Mensch und als ebensolcher verteidigt erseine Freiheit. Ganz anderer Meinung ist seine Schulleitung, die sich genötigt sieht, ihn, den Raufknaben, kurz und bündig zu dispensieren. 

In dieser abgelegenen Gegend des Mississippi-Delta, wo er aufgrund eines Einfalls seiner Mutter neuerdings lebt, gibt es weder Ablenkung noch Raufkumpane mit schlechtem Einfluss. Darum schlendert Erwin jetzt tagelang nach seiner Ankunft durchs Dorf, das er «broken dreams (unerfüllte Träume)» nennt. Er betitelt das Kaff deshalb so, weil das erste Haus das nächste nur noch durch die stärker verwitterte, bröckelnde Fassade zu toppen scheint. 

Einmal in der Woche trabt er beim freundlichen Pfarrer Alban an und darf mit einem Jungen in seinem Alter Bibel lesen. Den Lese-Kameraden tauft er kurzerhand die «kranke Katze», weil dieser Hornbrille-Träger stets die Augen zukneift, wenn er angesprochen wird und zudem ziemlich blass und krank aussieht, wie eine kranke Katze eben. Zunächst will er sich mit «der kranken Katze» nicht anfreunden bis ihm Dexter, so heisst der Junge, erzählt, dass er seit geraumer Zeit ein bösartiges Virus in sich trägt, das sein Atmen empfindlich erschwert. Das Einatmen fühle sich an, als ob dreissig Bücher auf seiner Brust zu liegen kommen, meint Dexter. Die Lage ist für den angegriffenen Jungen bedrohlich, das weiss Erwin jetzt. Und beim Plaudern erhascht der den grössten Wunsch seines Leidensgenossen in Sachen «Dinge, die ich schon längst tun wollte». Dexter will sich endlich – vielleicht zum letzten Mal– mit einem Floss auf dem Mississippi vom Wasser davontreiben lassen. Daher rottet Erwin in einer Nacht- und Nebel-Aktion einige starke Männer vom Dorf zusammen, baut mit deren Hilfe ein Floss, beladet es mit zwei Angelruten, reichlich Fangköder und genügend Proviant. Noch ehe der Hahn kräht, treffen er und sein schwer kranker Freund beim Floss ein. Nach Erwins Ansicht werden sie unausweichlich vom Fluss in eine Stadt getrieben und dort einer dieser ausgezeichneten Ärzte vorfinden, der mit Bestimmtheit seinem neuen Freund weiterhelfen kann. Lachend, hoffend und voller Vorfreude klettern Erwin und Dexter aufs Floss, das «mercy-ship (Schiff der Barmherzigkeit)», wie sie liebevoll den Bretterbeschlag nennen, auf dem sie sitzen. Die Fahrt gestaltet sich zunächst träg und langsam, so dass die zwei Jungs die Angelruten herauspacken und den Haken im trägen Wasser versenken. Allmählich kriegt das Floss Geschwindigkeit, denn der stärker werdende Strom macht ihr Gefährt schneller.

Der ältere der Froschjungen beklagt sich bei seiner Mutter, dass nach etlichen heldenhaften Sprüngen ins seichte Nass, nichts gegen seinen Hunger unternommen wird. «Mami, ich habe Hunger», quakt es hervor. Wahrlich, wahrlich der Tümpel trocknet in letzter Zeit durch die hitzige Temperatur aus und nicht nur die Sprungmöglichkeiten werden knapper, was wirklich alarmierend ist, sondern gemeinsam mit der üppigen Vegetation haben sich ebenfalls die Fliegen verzogen. Die Mutter befiehlt den Froschgemahl hierher und beauftragt ihn mit der schwersten Aufgabe, die es auf «Teichanien» gibt, Futter für die XXL-Familie zu besorgen. Der gequälte Froschvater tut, was er stets in solch unausweichlichen Situationen tut: er quakt hoffnungsvoll zum Trotz in die matte Misere hinein. Das Quaken klingt wie ein fröhliches Klagelied. 

Längst ist aus dem Gelächter Erwins und Dexters Hilfe- wenn nicht Panikgeschrei geworden, denn das Floss ist in den Schnellen gefährlich schnell unterwegs. So schnell, dass das Floss zu kentern droht. Jegliche Steuermanöver versagen, sodass das Holzgefährt geradeaus mit voller Wucht am Flussufer zerschellt. Angelrute, Proviant, ein mächtiger Schwall Wasser und die Köder katapultiert es über den Sicherheitsdamm.

Die Froschfamilie ist längst mit dem renitent hoffnungsvollen Vater ins Gequake eingestimmt, so als ob das kollektive Gequake auf diese Weise unter dem Himmel mehr Gewicht verleiht bekommt. Plötzlich packt sie allesamt vom ersten bis hinterletzten eine Tsunamiwelle und schleudert die noch kürzlich in Froschklage vertiefte Hüpffamilie ans andere Ende des nunmehr auf wunderliche Weise prall gefüllten Teiches. Um sie herum sind lauter Fliegen, so viele wie für hundert Mahlzeiten.

Noch heute, nach etlichen Jahren, wenn Erwin zum Abschalten zum Flussdelta ins Gequake heruntersteigt, erinnert er sich gerne an die Floss Episode auf dem Mississippi. Als wenn es heute gewesen wäre, hört er in seinem Ohr das Gelächter seines längst verstorbenen besten Freundes. Als ausgezeichneter Arzt weiss er, dass Dexter ohne die heute gut entwickelten Medikamente gegen den Virus keine Chance zum Überleben hatte. Daher erfüllt es ihn mit wehmütiger Freude, dass er Dexter zumindest einen Lebenstraum erfüllen konnte. Nach den Mississippi-Vorfall entwuchs eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen und das Bibelzitat, das sie gemeinsam bei Pfarrer Alban vor der Abfahrt gelesen hatten, hallt in seinem Geist nach: «Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.»

Hebräer 4:16

Wann und wo Barmherzigkeit und Gnade hinfallen, ist nicht unsere Sache. Wir wissen wenig über die Dinge die zwischen Erde und Himmel vonstatten gehen. Aber nicht gänzlich verborgen bleibt uns der leise Strom der Gnade, der sich in unserem Leben unsichtbar windet. Ab und zu blitzt, so wie ein feiner Lichtstrahl durch die Felsritzen in die dunkle Höhle den Weg findet, Barmherzigkeit vor unseren Augen auf. Aus der Perspektive eines Beobachters dürfte die Flossfahrt der Teenager lediglich als ein dummes Unterfangen zweier Adoleszenten betrachtet werden. Man kann sich fragen, was zwei Jungs unter der Woche, wo gleichaltrige wie sie üblicherweise die Schulbank drücken, auf dem gefährlichen Fluss alleine zu suchen haben. Man darf sich ebenfalls fragen, weshalb die Froschfamilie nicht schleunigst einen mit Wasser gefüllten Teich aufgesucht hat. Sicherlich sind es alles berechtigte Fragen. Vernünftige Fragen wahrscheinlich. Nur die Gnade folgt einer anderen Rationalität. Vielleicht nehmen Sie sich etwas Zeit und nehmen sich vor, nach dem Gnadenfluss Ausschau zu halten. Entscheidend dafür ist, welche Perspektive Sie einnehmen.

Ihr Pfr. Fabio Carrisi