Ich erinnere mich genau: Diese Brücke über den ausgetrockneten und schmalen Rio Grande, der El Paso in den USA von der Stadt Juarez in Mexiko trennt. Endlose Autoschlangen, routinierte Grenzgänger zu Fuss und ein markiges «Süssigkeiten!» alle fünfzig Meter.
Schrittweise breitet sich ein unangenehmes Gefühl aus. Ich schwitze mehr als sonst und fühle mich getrieben. Ich schaue rückwärts über die Schulter und beschleunige meinen Gang. Was ist los? Mir war zu Ohren gekommen, dass Juarez als eine der gefährlichsten Städte der Welt gilt, geprägt von Drogenkartellen, Korruption und Gewalt. Ich hatte Bilder von Leichen auf den Strassen gesehen, von Mauern voller Graffiti, von Menschen mit verzweifelten Gesichtern.
Auf der Grenzbrücke nach Mexiko erlebe ich wie die Stresshormone Adrenalin und Cortisol mehr als üblich ausgeschüttet werden. Und meine Amygdala reagiert stärker auf Gesichter von Menschen, die einer anderen ethnischen Gruppe angehören als der meinigen. Und so werde ich chemisch auf Abwehr von Gefahr vorbereitet.
Langsam dämmert es mir: «Ah, ich habe Angst! Obwohl ich sie nicht direkt fühle.» Dass das ausgerechnet mir passieren muss. Ich habe doch viele Jahre im Ausland gelebt und einige mir fremde Kulturen schätzen gelernt. Nun habe auch ich Angst vor dem Fremden, bin selbst xenophob.
Es hilft mir zu wissen, dass Xenophobie auch in den Genen verankert ist: Sie treibt den Menschen seit Urzeiten dazu an, sich vor dem Unbekannten zu fürchten. Das Unbekannte kann ein Feind sein, der ihm das Leben oder die Ressourcen streitig machen will. Die Angst ist ein Überlebensmechanismus, der mir Impulse gibt, um mich zu schützen.
«Und Frieden auf Erden», singen wir in der Weihnachtszeit. Wiekann aus diesem Wunsch etwas mehr Wirklichkeit werden? Ich glaube insbesondere auch mit dieser Frage: Wie kann ich meine Angst vor dem Fremden mindern und meine Toleranz und Offenheit erhöhen? Wie kann ich, wie im Gleichnis von Jesus, ein «barmherziger Samaritaner» sein, der seine Xenophobie überwindet und der von Räubern schwer verletzten ausländischen Person hilft?
Mir ist die Erkenntnis wichtig geworden, dass ich kurzfristig meine Angst vor dem Fremden und Anderen nicht verhindern kann. Das Autonome Nervensystem wird aktiv, bevor ich mit dem Bewusstsein etwas steuern kann. Ich werde also mein Leben lang einen xenophoben Anteil in mir haben. Es hilft mir, dieser unerfreulichen Tatsache auch Worte zu geben.
Andererseits werde ich weiterhin viele mir fremde Facetten der Welt entdecken und geniessen. Ich lerne Menschen kennen und schätzen – oder ziehe mich auch manchmal zurück. Manchmal bin ich offen für Neues und Anderes, manchmal will ich es sein. Ich versuche, meine Xenophobie immer wieder zu überwinden. Seit drei Jahren treffe ich Pablo fast wöchentlich. Er vermittelt mir eine herbe und wohlklingende Sprache. Nach einer Stunde Spanisch sprechen wir Deutsch miteinander. Diese Person hat nicht in Juarez gewohnt, sondern etwas weiter südlich in Mexiko …
Peter Geissbühler, Pfarrer