Im «Augen-Blick» wird’s wahr

Nichts gegen Baum, Schmuck, Krippe! Sie gehören zur Szenerie von Weihnachten in Schaufenstern, Kirchen und Wohnungen. Und zeigen sie sich wieder, gibt’s Vertrautes nach einem zu Ende gehenden, wechselhaften Jahr. 

Was Weihnachten weiter auslösen kann, finde ich über eine Darstellung wie sie beispielsweise der Isenheimer Altar im elsässischen Colmar zeigt. Es ist ein Detail und hält doch das Ganze zusammen. Das Detail liegt im Blick, in Blicken, die sich begegnen: Das Kind liegt in den Armen der Mutter, die Gesichter sind einander zugewandt. Die Art wie sie ihr Kind anblickt, ist nicht eigentlich ein Sehen. Sie schaut es an. Ruhig schaut sie. Ihr Blick ruht. Weil sie nicht nur hinsieht, bleibt sie dem Äusseren nicht verhaftet. Was aussen ist und in ihr innen wirkt, findet zusammen. Auch Mutter und Kind und Kind und Mutter, sie sind füreinander nicht nur gerade ein Visà-vis. Im wechselseitigen Erkennen und Erkannt-Werden entsteht das, was sich in ihrer Begegnung verkörpern möchte. Ist es eine Beheimatung in einer Lebenswelt, die uns auch zweifeln und manchmal sogar verzweifeln lässt? Ist es eine Verbindung mit dem Leben von seinem Ursprung her? Und ist darauf Verlass? Oder kommt Verlassenheit, sobald sich die Blicke wieder voneinander lösen? – Der Blick ruht. Und bringt zum Ausdruck, was wahr bleibt, auch wenn Augen – und wir selbst – weiterwandern. 

In einem Augenblick entsteht eine ganze Welt, in einem Augenblick wird Leben geboren. Gott werde in uns geboren, sagen Frauen und Männer, die in allem, was ihnen begegnet, still und wach Gott suchen. Wir lernen uns und die andern als der Liebe Würdige und Liebende kennen. «Menschwerdung» ist dann kein Wort mehr, das «für» etwas stehen müsste, weil es sonst nicht da wäre. Worte können sich also erübrigen …

Urs Zangger, Pfarrer in Nidau