Hagar ist eine Sklavin aus Ägypten. Sie arbeitet im Haushalt Abrahams und Sarahs. Sarah bekommt über viele Jahre keine Kinder. Schliesslich willigt sie ein, dass Abraham mit der Sklavin schläft, damit die Familie doch Nachkommen erhält. Hagar wird schwanger und ist stolz darauf; in ihrem Blick drückt sie leise Verachtung für Sarah aus. Sarah rächt sich und lässt Hagar die niedrigsten Arbeiten verrichten. Da hält die Sklavin es nicht mehr aus und flieht in die Wüste.
Gezeichnet von der sengenden Sonne rastet Hagar erschöpft an einem Brunnen. Auf einmal sieht sie einen Malach, d.h. einen Boten oder einen Engel. Seine Worte stärken sie, machen ihr Mut. Heute könne wir das zum Beispiel so verstehen: An einem Brunnen in der Wüste, in einem Moment der Entspannung, geht Hagar ein Licht auf. Welches Licht? Die Erkenntnis und das Ge- fühl, dass da ein Gott ist, der sie sieht. Hagar fühlt sich von Gott erkannt, gut wahrgenommen. In ihrer misslichen Lage, in ihrer unentwegten Demütigung, in ihrer Flucht, mit ihrem Kind im Bauch. Daraufhin nennt sie den Brunnen, an dem sie erfrischt wurde: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. (1. Mose 16,13).
Ich bin 1 Person unter fast acht Milliarden Menschen auf der Erde. 1 Planet in einem Sonnensystem mit acht Planeten. 1 Sonnensystem unter hunderten von Milliarden Sonnen in dieser Galaxis. 1 Ga- laxis unter 100 bis 200 Milliarden Milchstrassen im heute bekannten Universum. Kennen Sie das kosmische Staunen oder Schaudern? Wer bin ich als einzelner Mensch im Verhältnis zu diesen Grössenordnungen? Die astrophysikalische Antwort ist klar: Ich bin Sternenstaub. Als Einzelner bin ich ein bedeutungsloses Sandkorn im Universum, etwas Gischt auf dem weiten Ozean des Lebensstroms. Daran gibt es wenig zu rütteln.
Auf einer anderen Ebene kenne ich diese Intuition, dieses Ahnen, vielleicht auch diesen Wunsch, dass ich als einzelne Person eine Bedeutung habe. Eben dieses Sehnen nach Wert als Individuum kann in den Worten Hagars eine Antwort finden: Du bist ein Gott, der mich sieht. In deinem Blick fühle ich mich erkannt und bedeutungsvoll.
Ich stelle mir vor, wie Hagar später ihren Sohn bei der Geburt mit den Augen begrüsst und liebevoll willkommen heisst (oder war sie von der Geburt sehr erschöpft?) Ich verinnerliche diesen erkennenden und wohlwollenden Blick Hagars. Ich mache den Blick Gottes, der Hagar beim Brunnen so erkannte, wie sie war, zu meinem. Ich nehme also diese anerkennenden Blicke und Worte in mich auf. Und werde Staub von Sternen mit Bedeutung und Wert.
Dies im Widerspruch dieser Ausdrücke, entgegen dem Offensichtlichen, der kosmischen Bedeutungslosigkeit zur Alternative.
Mir tun Geschichten und Bilder gut, die dem Einzelnen Wert und Würde zusprechen. Wie die Erzählung von Hagar. Damit ich sie aufneh- me und mich in Momenten erkenne als … bedeutsames und wertvol- les Sandkorn im Weltraum.
Pfarrer Peter Geissbühler