Wer im Centre Anker in einem stattlichen Seeländer Bauernhaus in Ins steht, wähnt sich im Ins von einst, mit Strohdächern entlang der Müntschemier-Strasse. Gleichzeitig erkennt man im avantgardistischen Paris den Eiffel-Turm im Bau.
Man? Als Mann bin ich einzig, das Frauenforum von Nidau ist bei Albert Anker «z’Visite». Albert Anker war fest in seinem «Eis» verankert. Seit seiner Schulzeit in Neuchâtel lebte er in zwei Sprachkulturen. Bücher las er in fünf Sprachen, und als Maler bewegte er sich mit dampfbeschleunigter Mobilität zwischen dem «See-Land» und der «Seine-Stadt». Seine Porträtierten begegnen einem sowohl in funktionaler bäuerlicher Kleidung als auch in feiner «Haute Couture».
Er selbst war unterwegs mit geschnitztem Haselnussstecken, ein andermal mit elegantem Spazierstock samt Elfenbein-Knauf anzutreffen. Der Maler lebte weltoffen – auf einem schöpferischen Spannungsfeld zwischen Heimatverbundenheit und Weltläufigkeit.
Ähnlich konnte er Inser ins Bild rücken. «Die Bauern und die Zeitung» (siehe Foto). Einer der Männer sitzt in der Mitte, das Bild selbst will nichts eingrenzen.
Nach allen Seiten läuft es über den Rand hinaus. Die Mütze auf seinem Kopf ist weiss wie Zeitungspapier – ein Hinweis darauf, dass Wissen durch Lesen wächst?
Über der Ofenbank hängt eine Karte der Neuen Welt: Sind Angehörige ausgewandert? Die Uhr an der Wand taktet die Zeit, das Pendel ist in Bewegung – im Gegensatz zu den Bauern, die in ihrer Haltung verharren. Wo sind sie mit ihren Gedanken? Zwischen der weiten Welt und dem überlieferten Bild des gekreuzigten Auferstandenen? Einer scheint sich gar abzuwenden, raucht, als ginge ihn das alles nichts an. Das Kind schläft, – wird es im Erwachsenwerden erwachen? Eine Person muss bereits aufgestanden sein und das Buch – eine Bibel? – hingelegt haben: die Mutter des Jungen? Was ist (da) los? Soeben war es drei Uhr, und man verhockt die Zeit! Ist es Winter mit mehr Gemächlichkeit – oder einfach Zeit, in der sich Bewusstsein bilden will?
Das Bild entstand 1867, kurz vor der Revision der Bundesverfassung. In der noch jungen Schweiz lief der Kulturkampf zwischen Konservativen und Progressiven, im Streit zwischen den Konfessionen ging es um Macht, auch im Verhältnis von Kirche und Staat, und um die Frage der Religionsfreiheit für alle, auch für jüdische Einwohnerinnen und Einwohner. Anker, selbst Mitglied im örtlichen Kirchenrat, besuchte zuweilen auch katholische Feiern. Dem Menschlichen, wie es sich im täglichen Leben äussert, begegnete er mit Interesse und Respekt und begleitete das Zeitgeschehen mit kritisch-humanistischem Geist.
Die Zeiten sind komplexer, Kulturkampf ist ein Wort, das heute wieder in den Mund genommen wird, um zu legitimieren, was immer «frag-würdig» bleiben muss.
Was hilft uns, im Respekt miteinander umzugehen und dem, was für uns fremd ist, mit Interesse zu begegnen? Möglichkeiten gibt es vom 8.-16. November in der «Woche der Religionen». Als Kirchgemeinde sind wir dabei.
Urs Zangger, Pfarrer
Unsere November-Gemeindeseiten im reformiert. online lesen
