Kristallklar

«Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser» (Genesis 1,2). Ich stelle mir dieses biblische Ur-Wasser trüb vor, alsdann der Geist der Lebendigkeit eintraf. Die Wassermassen müssten tief dunkel und unruhig gewesen sein. Doch als der Geist der Lebendigkeit eintrifft, erhält die Erzählung einen neuen Dreh. Gleich mehr dazu.

Kann es sein, dass wir selbst in der Gefahr stehen, uns im Leben unverhofft in einer trüben Suppe wiederzufinden? Dann, wenn nichts mehr klar ist. Wenn die unruhige Sinnlosigkeit uns umspült, wie ein plötzliches Abtauchen im schäumenden Nass.

In der Art ist es einem jungen Mann ergangen, den ich vor einiger Zeit kennengelernt habe. Ich werde vom Lehrvater Peter in seine Werkstatt gebeten, weil er sich um seinen Lehrbuben Sorgen macht. Der Lehrvater schildert mir am Telefon, dass der junge Mann in Ausbildung fahrig und demotiviert auf ihn wirke, obwohl es mit ihm anfangs in der Lehre gut funktioniert hat. Vielleicht könne der Pfarrer helfen. Nach einem Stossgebet gen Himmel besuche ich die beiden. Erst als ich mit dem jungen Nimar ins Gespräch komme, und er mir von seinem Alltag und von seiner neu gewonnen Freiheit als Flüchtling in der Schweiz erzählt, erhält die Geschichte Konturen. Einerseits geniesst der junge Mann das freiheitliche Leben in vollen Zügen. Aufhorchen lässt mich aber, als er mir berichtet, wie ihm anderseits ein Gefühl von massloser Überforderung angesichts so viel Freiheit in der Schweiz übermannt. Nimar ist Flüchtling und oft auf sich alleine gestellt. Seine Familie weilt ganz weit weg. Er besitzt zwar, Gott sei es gedankt, eine hohe Auffassungsgabe, mit derer er rasch unsere Sprache und das Alltagswissen erwirbt, aber unsere Kultur macht ihm ab und zu mächtig zu schaffen. Denn er war Zeit seines Lebens streng religiös erzogen. Nur, hier ist es ein wenig anders. Nimar frage ich: «Kann es sein, dass du etwas über unsere Werte hier irritiert bist? Nimar, das nennt man Kulturschock, musst du wissen.» Man darf sich vergegenwärtigen, dass viele Veränderungen, sei es beruflich, privat, bürokratisch, sozial, politisch, mental und so weiter, vor allem bei einem neuen Leben im Ausland einen schockartigen Zustand auslösen können. Bei Namir war es so.

Ach ja, ich bin Ihnen die Fortsetzung der biblischen Erzählung schuldig. Wie geht es wohl weiter mit dem Geist der Lebendigkeit? Erst als der Geist Gottes sprach und ordnete, wurde Lebendigkeit. Das Schaffen und Werden beginnt mit Wort und Geist. Auf diese Weise wird der Ort des chaotischen Urwasser einen Hort des Lebens. In und neben dieser Ursuppe kommt das Wunder «Leben» zustande. Von diesem Wunder zeugen heute noch die Bergbäche und -Seen (siehe Bild).

Namir hat erkannt, dass der schnelle Wechsel in eine ihm fremde Kultur überfordert und er im interkulturellen Lernen Unterstützung braucht. Manchmal gelingt ein gutes Wort zur richtigen Zeit und die Trübseligkeit verwandelt sich in Klarheit, indem Ängste und Nöte einen Namen bekommen. Allenthalben ist es so, dass der Geist der Lebendigkeit wirkt und im Trüben Klarheit schenkt. Der kristallklare und kristallhelle Blick für die letztgültige Wirklichkeit Gottes wirkt Wunder, sage ich Ihnen.

Pfarrer Fabio Carrisi