Kennen Sie die Situation, wenn Sie gedankenversunken durch die Strassen wandeln und plötzlich zum Stehen kommen, weil Sie aus einem Augenwinkel etwas Ungewöhnliches bemerken, dass Sie aus den Gedanken reisst? Mir erging es letzthin in Biel genau so. Ich riss einen jähen Stopp und fand mich ganz geistesgegenwärtig vor einer Bar wieder. Der Platz davor war bis fast an den Strassenrand mit Stühlen belegt. Es duftete herrlich nach Kaffee und die Gäste plauderten munter miteinander.
Aber es war nicht die heitere Cafébar-Szene, die mich dort ungeplant anwurzeln liess, sondern vielmehr das sperrige Plakat vor dem Caféeingang, das ich auf dem Gehsteig zu umgehen hatte. Auf dem Plakat prangte in übergrossen Lettern geschrieben: «Picknick möglich»
«Echt?!», dachte ich bei mir selbst. Ich weiss nicht, wie viele noble sowie auch elende Städtekaffees ich auf diesem Rundballen schon besuchen durfte, aber ein ebensolches in eigentümlicher Art und Weise kam mir nimmer in die Quere. Ich darf jetzt einfach mir nichts, dir nichts die gesamte Tupperware-Palette aus dem Sack hervorkramen und auf einen freien Tisch legen, um mich genüsslich daran zu laben, ohne etwas zu bestellen. Einfach den Tisch besetzt halten und vielleicht aus An- stand dann doch einen Espresso bestellen. Ist das das Wunderland?
Das ist unübliche aber grosszügige Gastfreundschaft, dünkt mich.Hier sind nicht nur die zahlungskräftigen Gäste willkommen, sondern auch Gäste mit einem schmaleren Geldbeutel. Es erinnert mich an die Grundhaltung der Gastfreundschaft in der Bibel, nachzulesen im Gleichnis von der Einladung zum Gastmahl im Lukasevangelium. Darin lädt der grosszügige Gastgeber zum Festmahl. Leider kreuzen die privilegierten Erstgeladenen nicht auf, sodass der Hausherr kurzerhand seine Knechte in die letzten Gassenwinkeln der Stadt schickt und Arme, Kranke und Bettler zu sich nach Hause einlädt. Tatsäch- lich treffen die Ersatzgäste ein und der Gastgeber feiert mit ihnen.
Damit vollzieht der biblische Gastgeber einen Perspektivenwechsel, indem er Menschen ins Auge fasst, die zunächst nicht auf seiner Einladungsliste vorgesehen sind. Ich denke, dass mir, Ihnen, der Kirche und der Gesellschaft mehr solcher Perspektivenwechsel gut anstehen würden. Wie zum Beispiel beim unorthodoxen Pick-Nick-Angebot im Kaffee. Offen sein, an unerwarteten Orten Gott und seinen unerkannten Nächsten erkennen.
Weshalb? Ich selbst wünsche mir für meine Kinder und für Sie eine Welt, die sich der biblischen Liebe weiterhin verpflichtet fühlt: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst. Das heisst, ich handle so, dass ich stets versuche, mich in die Lage meines Nächstens zu versetzen und danach handle. Eine solche Mentalität darf stets von Neuem eingeübt werden. Ich bin auf die neuen Plakate mit der Aufschrift «… möglich» in der Umgebung gespannt. Falls Sie so spontan sein wollen, dürfen Sie mir gern ein Foto davon schicken (fabio.carrisi@ gmx.ch).
Pfarrer Fabio Carrisi