Ans Limit gehen …

Kennen Sie diesen Satz? «Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.» Jesus sagt ihn im Johannes-Evangelium. Wir verstehen den Spruch oft so: Du selbst hast Fehler, also urteile nicht über andere. Oder, etwas subtiler: «Ich habe gewiss auch meine Fehler, aber so wie sie oder er bin ich schon nicht (ganz).» Und ja: «Ich urteile ja nicht, aber es würde ihm/ihr gut tun, wenn …»

Nun ist das mit dem Nicht-Urteilen so eine Sache. Inwiefern kennen Sie diese Impulse: Schon nur, wenn er den Mund auftut, könnte ich … Schon nur, wie sie dasitzt, dreinschaut, ich könnte sie … Oder: Ich kenne ihn jetzt 23 Jahre durch und durch, er sollte sich endlich einen Ruck geben. Manchmal würde ich ihn/sie am liebsten … Und wie steht es nun mit dem gefühlten «nicht ver/urteilen»? Ich merke, wie sich emotional das «ich bin besser als du» immer wieder einschleicht.

Was hilft mir, einen Schritt weiter zu gehen, als mein Verhalten nach dem Motto «nicht urteilen» im Griff zu haben? Was könnte mir etwas Herzensgüte oder Barmherzigkeit eröffnen? Mir ist das Erfahren von Grenzen von Nutzen, die ich mit aller Willenskraft nicht überwinden kann. Ich denke dabei an Beziehungen, die dorthin fliessen können, wo ich das lieber nicht hätte. Auch unheilbare Krankheiten kommen mir in den Sinn oder mehrfach gescheiterte Versuche, etwas zu erreichen (Beruf, Hobbies).

Wie wäre es, wenn Sie folgendes ausprobieren: Denken Sie an ein Ziel, das sie mit grosser Wahrscheinlichkeit erreichen können. Das ist relativ einfach bei körperlichen Übungen, zum Beispiel zwanzig Kniebeugen oder drei Kilometer rennen in zwölf Minuten. Vielleicht ist das Vorhaben auch: Drei Liegestützen oder eine schwere Einkaufstasche vier Mal einen Meter hoch halten. Nun erhöhen Sie das Ziel gedanklich gerade um so viel, dass Sie es mit Sicherheit nicht schaffen werden. Und versuchen Sie nun trotzdem, mit aller Kraft dieses Ziel zu erreichen. Erleben Sie dies im Körper, so lange bis es wirklich nicht mehr geht.

Wozu dient diese Erfahrung? Den Zeigefinger nach vorne strecken setzt oft voraus, dass ich denke, dass der andere es besser könnte als er es effektiv tut. Das erzeugt Unverständnis und Ärger. In diese Situation hinein erinnere ich mich an die Gefühle, die ich hatte, als ich mein Ziel nicht erreicht habe. Und dies weicht mein Herz etwas auf. Es könnte sein, dass es dieser Person, die mich gerade ärgert, ähnlich geht wie mir bei meinem Versuch, nicht zu überwindende Grenzen zu überwinden.

Mit diesem Experiment ist nicht gesagt, inwiefern eine Grenze wirklich überwindbar ist oder nicht.

Gesellschaftlich bewegen wir uns meines Erachtens aber eher nach dem Motto «wo ein Wille ist, ist ein Weg». Und so scheint es mir sinnvoll, dass wir gegebene Grenzen ganz real erfahren, also mit den Grenzen ringen ohne sie verändern zu können. Wenn Sie sich dieses Experiment vorstellen, ist das ein erster Schritt. Damit sich das Herz öffnen kann, empfehle ich Ihnen, dies möglichst körperlich zu erleben.

«Wer von euch ohne Sünde ist, der werfen den ersten Stein», sagte Jesus. Seine Haltung war die der Güte, des Mitgefühls und der Barmherzigkeit. In den Spuren von Jesus würde ich für heute sagen: Erfahren wir nicht veränderbare Grenzen ganz real. Nach dem sehr unangenehmen Gefühl des Misslingens könnte es zeitweise warm werden im Herzen, und unsere Glieder, auch der Zeigefinger, entspannen sich…

Pfarrer Peter Geissbühler