Liebe mit Eigennutz

«Der moderne Mensch ‹läuft› zu leicht ‹heiss›. Ihm fehlt zu sehr das Öl der Liebe.» schreibt Christian Morgenstern. Wer von uns läuft unter Druck nicht heiss? Und der Stress steigt stetig, in der Arbeitswelt und im Gefüge der Beziehungen. Komprimiertes Gas wird heiss, explodiert und würde den Motor unserer Autos mit der Zeit kaputt machen, wäre da nicht das Wasser, das kühlt und das Öl, das schmiert. Was ist hier Öl, das schmiert? Was ist hier Liebe? Oft wird Liebe in den Kirchen als Nächstenliebe verstanden. Und zwar so: Nächstenliebe ist selbstlose Liebe, die anderen hilft, sie tröstet und sich für sie einsetzt. Diese Liebe kann schweigen, ist flexibel und gibt auch einmal nach.

Wie selbstlos ist meine Liebe? Ich möchte, dass die andere Person meine Liebe wahrnimmt oder gar erwidert. Zum Beispiel durch ein Danke, durch Wertschätzung oder durch eine warme Rückmeldung. Und wenn sie das nicht tut gibt es ja Gott, der sieht, was ich im Kleinsten getan habe.

Warum gefällt mir ein Charakterzug einer Person sehr und beschwingt mich? Weil sie das hat, was mir fehlt oder weil sie mir so ähnlich ist. Warum tröste ich? Weil ich auch getröstet werden möchte. Warum ist mir eine intakte Umwelt wichtig? Weil ich mir wünsche, dass die Kinder meiner Kinder mal wegen der Luftverschmutzung keine Gesichtsmasken tragen müssen. Selbstliebe zieht auch die Auswirkungen auf die Umwelt mit in Betracht. Denn auf dieser Welt werden auch «unsere» Kinder und Grosskinder leben.

Warum gebe ich einem Bettler Geld? Weil ich durch einen Schicksalsschlag möglicherweise auch in dieselbe Situation kommen könnte oder weil ich das Gefühl des Elends loswerden möchte. Warum komme ich nicht darum herum, meinen Reichtum mit Menschen aus Drittund ViertweltLändern zu teilen? Einerseits weil ich nicht zusehen kann, wenn jemand lange und intensiv leidet, dann wegen meines schlechten Gewissens und: Mächtige Waffen werden immer wie kleiner, erschwinglicher und verfügbarer. Könnte mit der Zeit mehr Gerechtigkeit in der Verteilung des Reichtums nicht auch mit Waffengewalt erpresst werden?

Warum verurteile ich möglichst nicht? Oder warum versuche ich wenigstens, so zu handeln, als würde ich nicht verurteilen? Weil ich auch nicht verurteilt werden möchte und Raum haben möchte, um mich zu entfalten.

So gesehen ist Nächstenliebe ein weitsichtiges Schauen, was es zu meinem Glück alles braucht. Liebe ist in meinem Interesse, aber sie ist in meinem Eigennutz weitsichtig. Und es ist in meinem Interesse, mit anderen verbunden zu sein, da mein Glück ohne ihr Glück kaum möglich ist.

Eigennützige nachhaltige Liebe. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» So wird mein Glück mit dem Glück anderer wachsen …

Pfarrer Peter Geissbühler

Datum 1. November 2019